Ein altes Märchen: Es war einmal ein guter Mann, dem zeigte Gott, nachdem er gestorben war, die vielen Probleme seines Lebens und wie er sie gelöst hatte. Schließlich fragte ihn Gott: „Mein Sohn, hast du noch eine Frage?“ Und der Mann sagte: „Ich sah zwei Fußspuren in den Zeiten, als es mir gut ging, und wusste, dass du neben mir gehst. In meinen schlechten Zeiten sah ich aber nur eine Fußspur. Mein Gott, warum hast du mich verlassen, wo ich deiner am dringendsten benötigte?“ Und der liebe Gott antwortete: „Siehe, in den guten Zeiten bin ich neben dir gegangen, um dir den rechten Weg zu zeigen, doch in den schlechten Zeiten, da habe ich dich getragen.“
André Comte-Sponville erklärt diesen in seinem Buch „Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben“ folgendermaßen: Das Mitleid ist emotionaler, natürlicher und spontaner und stellt sich fast immer zuerst ein. Barmherzigkeit ist schwerer und seltener, denn man muss nachdenken. Die Barmherzigkeit ist – wie die Klugheit – eine geistige Tugend, denn es geht darum, den anderen zu verstehen, um ihm vergeben zu können. Eine der Qualitäten der Barmherzigkeit ist also das Verzeihen-Können oder die Tugend der Vergebung. Und die ist von uns allen immer wieder gefordert.
Barmherzigkeit – lat. misericordia – leitet sich ab von „miser“ – mitleidig und „cor“ – Herz. Barmherzig ist, wer ein mitfühlendes und weiches Herz hat, herz-lich ist. Und das ist gleich das richtige Stichwort für den traditionellen praktischen Tipp, damit „Lebenskunst“ nicht im Kopf stecken bleibt: Fassen Sie sich ein Herz und folgen Sie der Maxime der Barmherzigkeit:
Wo du nicht lieben kannst, höre wenigstens auf zu hassen.
Vergeben bedeutet nicht, dass man etwas ungeschehen machen kann, verzeihen bedeutet nicht vergessen. Worum es geht, ist, aufhören zu hassen, aufhören, sich zu ärgern, aufhören, negative Gefühle zu empfinden. Denn – und jetzt kommt das Denken ins Spiel und die östliche Karmalehre: Alles, was mir geschieht, hat auch mit mir zu tun. Wenn ein Freund mich hintergeht, ein Händler mich betrügt, mein Kind mich anschreit, dann geschieht dies nicht „zufällig“, sondern ist eine „Lernaufgabe“ für mich. Khalil Gibran formuliert das in „Der Prophet“ sehr deutlich:
Denn alle Menschen sind durch das kollektive Karma – mit westlichen Worten würden wir sagen: gemeinsames Menschheitsschicksal – miteinander verbunden und wenn einer Gutes tut, kommt dies allen Menschen zugute, begeht jemand eine Verfehlung, so schadet er allen.
Deshalb ist Vergebung unser aller Menschenpflicht. Leicht fällt sie, wo Identifizieren möglich ist, z.B. dem Lügner kann man verzeihen, weil jeder schon mal gelogen hat, dem Egoisten, weil jeder egoistisch ist, dem Feigling, weil ich selbst nicht immer mutig bin. Aber wie steht es mit dem Kinderschänder? Den Folterknechten im Gefangenenstützpunkt in der Bucht von Guantanamo? Den Terroristen der Taliban? Hier ist Identifizierung nicht mehr möglich, aber gerade diese allerschlimmsten Verbrechen verlangen unsere Vergebung und unser Verständnis.
So ist Barmherzigkeit eine geistige Tugend, denn ich muss an mir arbeiten, nachdenken, Verständnis für Menschenschicksale erwerben, um selbst in den allerschlimmsten Fällen nicht zu hassen. Denn: Welcher niederträchtige Mensch hat sich aus freien Stücken dazu entschieden, niederträchtig zu sein? Sicherlich ist er gefangen in seinem Hass, in seiner Verblendung, in seiner Geschichte, in seinem Leid. Niemand ist willentlich böse, sagte Sokrates. Und einer der berühmtesten Sätze Spinozas lautet: „Nicht verlachen, nicht beklagen, nicht verdammen, sondern begreifen.“ Vergebung durch Verständnis bedeutet nicht, alles geschehen zu lassen. Man möge dem Bösewicht ruhig, klar oder sogar fröhlich Widerstand leisten und verzeihen, den Hass in sich besiegen, wo man ihn nicht im Bösewicht besiegen kann und wenigstens sich selbst beherrschen, wo man schon ihn nicht beherrschen kann.
Für all dies ist der XIV. Dalai Lama ein lebendiges Beispiel. Er ist erfüllt von gelassener Heiterkeit und Vergebung angesichts eines brutalen persönlichen Schicksals – und er geht einen intensiven geistigen Weg, der in die Karmalehre eingebettet ist. Er wurde vertrieben aus seinem Land, tausende Menschen seines Volkes wurden grausam getötet, unzählige Klöster zerstört und das religiöse Leben in Tibet fast vernichtet… Aber gerade dieser Mann ist ein Beispiel für Gelassenheit, Heiterkeit und Friede und gilt allenthalben auf der Welt als leuchtendes Vorbild der Liebe – welche großartige menschliche Größe! Fast gottgleich, könnte man denken.
Barmherzigkeit ist eine der wichtigsten Eigenschaften Gottes in allen Religionen, wobei in den drei monotheistischen Religionen (Christentum, Judentum und Islam) die Bezeichnung Barmherzigkeit gewählt wird und in der Philosophie des Buddhismus das Mitleid genannt wird.
Im Judentum gibt sich Gott auf dem Berge Sinai Moses zu erkennen als barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue… „Barmherzig“ ist Gott, weil er die Sünden zwar sieht, aber sie verzeiht. In der christlichen Bergpredigt heißt es: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ Fast den gleichen Wortlaut finden wir im Koran: „Diejenigen, die nicht barmherzig sind, werden keine Barmherzigkeit erlangen.“ Und einer der häufigsten Bezeichnungen Allahs im Koran ist „ar-rahman“ – Allerbarmer und „ar-rahim“ Allbarmherziger. Beide Namen stammen von der gleichen Wortwurzel ab und beschreiben die immerwährende Liebe Gottes.
Tipp zum Mitnehmen
Erinnern Sie sich an das gütige Lächeln Buddhas, dem folgender Satz zugeschrieben wird:
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