Der Prophet Mohammed kam mit einem seiner Begleiter in eine Stadt, um zu lehren. Bald gesellte sich ein Anhänger zu ihm: „Herr! In dieser Stadt geht die Dummheit ein und aus. Die Bewohner sind halsstarrig. Man möchte hier nichts lernen. Du wirst keines dieser steinernen Herzen bekehren.“ Der Prophet antwortete gütig: „Du hast Recht!“ Bald darauf kam ein anderes Mitglied der Gemeinde freudestrahlend auf den Propheten zu: „Herr! Du bist in einer glücklichen Stadt. Die Menschen sehnen sich nach der rechten Lehre und öffnen ihre Herzen deinem Wort.“ Mohammed lächelte gütig und sagte wieder: „Du hast Recht.“ „Oh, Herr“, wandte da der Begleiter Mohammeds ein: „Zu dem Ersten sagtest du, er habe Recht. Zu dem Zweiten, der das Gegenteil behauptet, sagst du auch, er habe Recht. Schwarz kann doch nicht weiß sein.“ Mohammed erwiderte: „Jeder Mensch sieht die Welt so, wie er sie erwartet. Wozu sollte ich den beiden widersprechen. Der eine sieht das Böse, der andere das Gute. Würdest du sagen, dass einer von den beiden etwas Falsches sieht, sind doch die Menschen hier wie überall böse und gut zugleich. Nichts Falsches sagte man mir, nur Unvollständiges.“
Vereinigung von Krieg und Liebe
Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, schmückt zahlreiche öffentliche Gebäude und wird mit einer Waage, einer Augenbinde und einem Schwert dargestellt. Sie ist immerwährend auf der Suche nach Balance, Harmonie und Unparteilichkeit. „Harmonia“ wiederum ist die Tochter von Ares und Aphrodite, also das Kind der Vereinigung von Krieg und Liebe. Schwer ist sie zu erlangen, nur kurzlebig ist sie, schon bald neigt sich die Waagschale wieder auf die andere Seite…
Gerechtigkeit als Kardinaltugend
Mit der Gerechtigkeit zählt zu den vier Kardinaltugenden, sie ist die höchste Tugend nach Klugheit, Mäßigkeit und Mut. Alle vier brauchen einander, um wahrhaft sie selbst sein zu können. In der heutigen Zeit scheinen jedoch diese vier durch Abwesenheit zu glänzen, allen voran die Gerechtigkeit. Überall entdecken wir Ungerechtigkeiten: Wir erkennen eine sich rasant erweiternde Kluft zwischen Arm und Reich; Staatschefs, die unter dem Vorwand, „Schurkenstaaten“ zu bekämpfen, schamlos und unter Mithilfe der Weltgemeinschaft die eigenen Interessen durchsetzen; Kinderprostitution, Sklaverei und Menschenhandel – die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.
Alle Tugenden sind schwer zu erlangen, alle sind wichtig. Aber die Gerechtigkeit hat einen besonderen Platz. Sie ist vor allem eine soziale Tugend, eine Tugend, die sich im Miteinander verwirklicht – oder eben nicht. Kant sagte: [quote align=“center“ color=“#999999″]Denn wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, dass Menschen auf Erden leben.[/quote]
Von der Ungerechtigkeit
Laut André Comte-Sponville meint Gerechtigkeit zwei Dinge: einerseits Rechtlichkeit (dem Recht entsprechend), andererseits Gleichheit (gerechtes Aufteilen). Kinder haben ein ganz natürliches Empfinden für Gerechtigkeit und beschweren sich, wenn sie nicht das Gleiche bekommen wie andere oder nicht das, was ihnen ihrer Meinung nach zusteht. Erwachsene finden es ungerecht, wenn Besitzverhältnisse auseinander klaffen oder wenn Recht und Gesetze missachtet werden.
„Jede gesetzliche Vorschrift bezeichnen wir als gerecht oder Recht“, schreibt Aristoteles. Aber was tun, wenn die gesetzliche Vorschrift nicht gerecht ist? Wenn das Gesetz ungerecht ist, dann ist es gerecht, es zu bekämpfen oder sogar zu brechen. Denken wir an die Apartheidgesetze der Rassentrennung oder die Gerechtigkeit Antigones gegen die Kreons.
Sokrates starb lieber gesetzestreu
Der ungerecht verurteilte Sokrates – zu seinen Lebzeiten als der „weiseste Mensch“ geachtet – weigerte sich hingegen , zu fliehen, er wollte lieber – wie er sagte – gesetzestreu sterben.
[quote align=“center“ color=“#999999″]Hat er seine Gerechtigkeitsliebe übertrieben? Oder wollte er die Athener und die ganze Welt zum Nachdenken bringen…[/quote]
Sein ungerechter Tod hat besonders seinem Schüler Platon schwer zu schaffen gemacht. Er widmete einen Großteil seines Werkes dem Thema Gerechtigkeit und besonders das Buch „Politeia“ – der Staat, ist ein Ringen um diese Tugend. Es trägt den Untertitel „Über die Gerechtigkeit“.
Platon hat darin eine einfache, aber sehr klare Definition von Gerechtigkeit gegeben, die von vielen späteren Philosophen übernommen wurde. Für ihn ist es gerecht, wenn jeder das bekommt, was ihm zusteht, seinen Anteil, seinen Platz, seine Aufgabe. So soll die Harmonie des Ganzen bewahrt werden. Wäre es gerecht, allen dasselbe zu geben, wenn sie doch nicht alle dieselben Bedürfnisse und auch dieselben Verdienste haben? Ist es rechtens, von allen dasselbe zu verlangen, obwohl nicht alle dieselben Fähigkeiten besitzen? Laut Platon nicht.
[quote align=“center“ color=“#999999″]Gerechtigkeit bedeutet, jedem das zu geben,was ihm zusteht, nicht mehr und nicht weniger.
(Platon)[/quote]
Gerecht ist es vielmehr, jeden in seinem So-Sein zu erkennen und nach seinen Fähigkeiten zu fördern. Gerecht ist es, die Verschiedenheit der Menschen und nicht deren Gleichheit zu würdigen. Gleich sind wir in der geistigen Welt. In der manifestierten Welt sind wir verschieden, haben verschiedene Rechte und Pflichten.
Deshalb können auch nicht alle Menschen die Gerechtigkeit erkennen oder ausüben, denn das ist eine der schwierigsten Aufgaben überhaupt. Laut Platon sind dessen nur die „Aristokraten“ fähig (von griech. „aristos“ = der Fähigste). Nach seiner Vorstellung sollten sie die Regenten des Staates sein, die Philosophenkönige, denn sie können das Gute erkennen, sind unbestechlich und üben ihre Macht nur zum Wohl des Volkes aus, nicht um eigene Interessen oder Machtgelüste zu befriedigen.
Wie kann nun jeder Einzelne gut und gerecht handeln?
Die goldene Regel lautet nach Alain folgendermaßen: „Bei jedem Vertrag und bei jedem Handel sollst du dich an die Stelle des anderen setzen, aber mit allem, was du weißt, und indem du dich so frei von allen Zwängen denkst, wie ein Mensch nur sein kann, schau, ob du an seiner Stelle diesen Handel oder diesen Vertrag abschließen würdest.“ Das kommt uns doch bekannt vor: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“
Denn – so Pascal – das Ich ist „ungerecht, weil es sich zum Mittelpunkt von allem macht, unbequem darin, dass es diese (die anderen) sich unterwerfen will; denn jedes Ich ist der Feind aller anderen und möchte ihr Tyrann sein“. Gerechtigkeit ist das Gegenteil des Egoismus und Egozentrismus und darum in der heute so kalten Welt besonders wichtig. Sie hängt eng mit Altruismus zusammen und kommt nahe an die Liebe heran. Wie man bei funktionierenden Familien oder Gemeinschaften erkennen kann, geht die Liebe weiter als die Respektierung der Rechte, sie könnte sogar die Gerechtigkeit ersetzen. Denn ein liebendes Herz hat einerseits ein natürliches Empfinden dafür, was für den anderen gut ist, und ist andererseits auch fähig, zu verzichten. Von Aristoteles stammt der schöne Satz: „Auch bedarf es unter Freunden der Gerechtigkeit nicht, wohl aber unter Gerechten der Freundschaft.“
Damit Gerechtigkeit im Alltag gelingt, hier einige praktische Tipps:
1.) Seien Sie gerecht mit sich selbst, geben Sie Körper, Seele und Geist, was ihnen jeweils zusteht. Pflegen und ernähren Sie nicht nur ihre physischen Ebenen, sondern ernähren Sie Ihre höheren Ebenen durch Lektüre, Reflexion, Naturbetrachtung usw.
2.) Setzen Sie sich für Gerechtigkeit ein und lassen Sie in Ihrer Gegenwart keine Ungerechtigkeiten zu. Beweisen Sie Zivilcourage.
3.) Handeln Sie nach dem Gewinn-Gewinn-Prinzip: Achten Sie darauf, bei Interessenkonflikten so zu entscheiden, dass Sie und Ihr Partner zufrieden sind. Ist dies nicht möglich, dann wählen Sie eine dritte Möglichkeit. Besser so, als dass einer unzufrieden ist.
In diesem Sinne: „Sei gerecht und du wirst glücklich sein!“ (Jean-Jacques Rousseau)
Ihre Gudrun Gutdeutsch &
Treffpunkt Philosophie Zürich
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